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Alpine Gewässerlebensräume unter Druck
In den Alpen liegen die letzten unberührten Gewässer der Schweiz. Wilde Bergbäche, dynamische Schwemmebenen, intakte Hochmoore und Quellen im alpinen Raum sind wahre Hotspots der Biodiversität. Doch auch diese Flächen geraten immer stärker unter Druck. Viele drohen zu verschwinden, bevor sie richtig erforscht sind. Mit dem Schmelzen der Gletscher entstehen nun neue, dynamische Gewässerlebensräume mit enormem Potential als Rückzugsraum für zahlreiche Arten. Es ist unsere Chance der Natur wieder etwas zurückzugeben.
«IM ZUGE DER ENERGIEWENDE DARF DIE ARTEN- UND LEBENSRAUMVIELFALT NICHT VERGESSEN GEHEN. DAFÜR MACHT SICH AQUA VIVA ALS GEWÄSSERSCHUTZORGANISATION STARK: WIR KÄMPFEN FÜR DEN ERHALT DER LETZTEN UNBERÜHRTEN GEWÄSSERLANDSCHAFTEN DER SCHWEIZ.»
Salome Steiner, Geschäftsleiterin Aqua Viva
Einzigartige und unberührte Landschaften
In der Schweiz gelten nur noch 19 Prozent der Landfläche als naturbelassen. Ein Grossteil davon befindet sich im Hochgebirge und in vergletscherten Gebieten. Hier finden sich einzigartige und unbeeinträchtigte Bäche, Auengebiete, Hochmoore und Quellen mit enormer Artenvielfalt. Im Furkagebiet auf rund 2500 Meter Höhe haben Wissenschaftler:innen in nur vier Tagen über 2000 Arten entdeckt. Bei genauerer Untersuchung wären es sicher noch mehr gewesen.
Übernutzte Gewässer
Der Lebensraum zahlreicher, gerade auch gewässergebundener Arten droht jedoch zu verschwinden. Bei vielen Alpenflüssen ist noch nicht viel Wasser talwärts geflossen, bevor sie aufgestaut, begradigt oder gefasst werden. Die Naturschutzverantwortlichen der Bergkantone berichten von einem zunehmenden Nutzungsdruck auf die alpinen Quellen. Und viele der grossen Gletschervorfelder und alpinen Schwemmebenen wurden bereits unwiederbringlich zerstört. Dennoch dringen Wasserkraft und touristische Infrastruktur immer weiter auch in unberührte Landschaften vor.
Neue Refugien für seltene Arten
Durch den Rückzug der Gletscher entstehen aktuell wilde und dynamische Refugien. Besonders weite, flache Talabschnitte, in denen das Gletscherschmelzwasser sogenannte Schwemmebenen schafft, besitzen ein enormes Lebensraumpotential. Genau dort will die Wasserkraftlobby jedoch neue Stauseen und Wasserkraftwerke bauen. Verplanen wir diese Naturjuwelen, ohne deren Wert für die Artenvielfalt zu berücksichtigen, verlieren wir die letzten Rückzugsräume der Natur.
Gewässerlebensräume der Alpen
Hintergründe
Was hat die globale Biodiversitätskrise mit der Trift zu tun?
Gletschervorfelder: Neuland mit vielseitigem Potential
Wasserkraftnutzung und Energiewende
Unsere Alpen: Hoffnung für die Biodiversität
Wir müssen uns grossen und zukunftsweisenden Aufgaben stellen: Der Schutz und die Aufwertung der Lebensräume, um den enormen Biodiversitätsverlust zu stoppen. Die Reduktion des CO2-Ausstosses, um den Klimawandel zu verlangsamen. Beide Herausforderungen sind miteinander verknüpft. Im Zuge der Energiewende darf also die Arten- und Lebensraumvielfalt nicht vergessen gehen. Dafür macht sich Aqua Viva als Gewässerschutzorganisation stark.
Infolge der Gletscherschmelze verändern sich Landschaften und es entstehen neue Lebensräume. Wir werden Zeugen einer unglaublichen, faszinierenden und – leider – sehr schnellen Entwicklung dieser Gebiete. Lassen wir die Dynamik zu, statt diese einmaligen und beeindruckenden Landschaften gleich wieder zu verkaufen. Faszinierende Landschaften wie die Trift sind nicht erneuerbar. Die abschmelzenden Gletscher legen Flächen frei, die Raum für eine vom Menschen nicht beeinflusste Entwicklung der Natur bieten. In Senken entstehen Seen, längerfristig Flachmoore. Am Einlauf durchflossener Seen bilden sich Deltas und in den flachen Überflutungsbereichen entstehen Flächen mit Auencharakter. Wie alle Auen bieten solche Schwemmebenen ein enormes Potential für dynamische Lebensräume und für grosse Artenvielfalt. Mit den neu entstehenden Schwemmebenen haben wir die einzigartige Möglichkeit, der Natur wieder etwas zurückzugeben.
Das Artensterben ist eines der drängendsten Probleme unserer Zeit. Die durch die Gletscherschmelze neu entstehenden Flächen haben ein grosses Potential für unsere Tiere und Pflanzen. Geben wir der Biodiversität eine Chance. Eine aktuelle Studie (Geo7 2020) hat die Dynamik aller grösseren, bis ins Jahr 2100 eisfrei werdenden Gletschergebiete hinsichtlich ihres ökologischen Wertzuwachses untersucht. Unter den sechs Gebieten mit dem höchsten Entwicklungspotential befindet sich das Vorfeld des Triftgletschers. Die Trift hat demzufolge einen «stark erhöhten Schutzbedarf». Dass ausgerechnet hier ein Kraftwerk entstehen soll, zeigt wie gefährlich und unüberlegt dieses Projekt hinsichtlich der Biodiversität ist. Wenn wir Naturjuwelen wie die Trift verplanen, ohne deren enormes Potential für die Artenvielfalt zu berücksichtigen, verlieren wir letzte Rückzugsräume für hitzeempfindliche Arten.
Um zu verstehen, wie sich die Natur vom Menschen unbeeinflusst entwickelt, braucht es Wildnis. Doch diese ist in der Schweiz eine grosse Seltenheit. Ermöglichen wir den neu entstehenden, dynamischen Gewässerlandschaften ihre Entwicklung und schützen sie. Selbst in den Alpen sind viele Flüsse und Bäche verbaut oder in Stollen geleitet. Landschaften sind von Strassen, Hochspannungsleitungen und anderen Bauten zerschnitten und beeinträchtigt. Nun haben wir die Möglichkeit, der Natur etwas zurückzugeben und fasziniert zuzuschauen, wie wilde, dynamische Refugien entstehen. Hierzu reichen die gängigen Instrumente des Landschafts-, Natur- und Gewässerschutzes nicht aus. Denn aktuell wird von Behörden und Politik bei Interessensabwägungen fast ausnahmslos gegen die Gewässer entschieden, im alpinen Raum noch begünstigt durch die Wasserzinseinnahmen der Gemeinden und Kantone. Oft sind es erst die Gerichte, welche die Einhaltung der minimalen, gesetzlich festgelegten Schutzansprüche verlangen – und dies auch nur dann, wenn eine Umweltschutzorganisation wie Aqua Viva diese Ansprüche einfordert.
Um den weiteren Verlust von Gewässerlebensräumen zu verhindern, braucht es einen gesamtheitlichen Blick, der die bereits erfolgten Zerstörungen und Beeinträchtigungen berücksichtigt. Die Schweizer Gewässer haben ihren Beitrag zur Energiewende geleistet. Die Schweiz nutzt 95 Prozent des verfügbaren Wasserkraftpotentials. Der Anteil der Wasserkraft an der gesamten Stromproduktion liegt bei rund 60 Prozent. Das 1990 vom Bundesrat mit dem Programm «Energie2000» gesetzte Ziel, die Wasserkraftnutzung um nur noch weitere fünf Prozent zu steigern, ist bereits um das Zweieinhalbfache übertroffen. Bewilligte und von den Umweltverbänden nicht bekämpfte Grossprojekte wie die Erhöhung des Stausees Göscheneralp oder die Vergrösserung des Wasserkraftwerks Brusio werden aus wirtschaftlichen Gründen nicht umgesetzt. Schnell vergessen wir, was wir dem Wasser insgesamt bereits abverlangt haben: Kein anderer Lebensraum leidet so unter uns Menschen wie unsere Gewässerlandschaften.
Die Wasserkraft ist zwar erneuerbar, ihre Nutzung belastet jedoch die Gewässer und die Landschaft stark. Statt eine gute, aber ausgereizte und biodiversitätsgefährdende Technologie zu subventionieren, müssen wir endlich in den Ausbau ökologisch verträglicher Energieformen und ins Energiesparen investieren. Der unschätzbare Wert unserer Landschaften und der Biodiversität darf und muss nicht der unbestrittenen Energiewende zum Opfer fallen. Heute zeigen alle Bestrebungen Richtung Nutzen und die Wasserkraft steht dabei nach wie vor im Fokus. Doch warum sollen wir auf Kosten unserer Gewässer und Gewässerlandschaften aus dieser Zitrone auch noch den letzten Tropfen pressen? Das ist weder naturverträglich noch innovativ oder wirklich nachhaltig. Im Unterschied zu den 1950er und 1960er Jahren, wo die Wasserkraft als weisse Kohle ihre Blüte hatte, wissen wir es heute besser. Setzen wir auf Alternativen wie die Solarenergie, Effizienz und den genügsamen Umgang mit den vorhandenen Ressourcen. Ohne diese Umorientierung werden wir den gleichzeitigen Ausstieg aus den fossilen Energien und der Atomkraft nicht schaffen. Das zeigen alle Prognosen. Das vorhandene Potential ist enorm: Erst 4,5 Prozent des Stromverbrauchs stammen hierzulande aus Solarstrom.
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