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Genug ist nie genug

Lange Zeit trug der Ausbau der Wasserkraft dazu bei, die Energieversorgung der Schweiz auf stabile und vom Ausland weitgehend unabhängige Beine zu stellen. Doch spätestens seit Mitte der 1980er Jahre stösst das wirtschaftliche und ökologische Potential der Wasserkraft an seine Grenzen. Seitdem dringt die Wasserkraft immer stärker in letzte unberührte Gewässerlandschaften vor – mit nur noch verhältnismässig kleinen Zugewinnen bei der Stromerzeugung. Es ist an der Zeit, den ausgetretenen Pfad der Wasserkraft zu verlassen und das riesige, ökologisch nachhaltigere Potential alternativer Energieträger wie der Solarenergie zu nutzen.

von Salome Steiner und Tobias Herbst

Heute gibt es in der Schweiz 682 Wasserkraftwerke mit einer Leistung über 300 kW (Kilowatt). Hinzukommen rund 900 Kleinstwasserkraftwerke mit weniger als 300 kW (BFE 2019a). Die Wasserkraft ist damit die wichtigste Elektrizitätsquelle der Schweiz. 2021 produzierten die Schweizer Wasserkraftwerke 39500 GWh Strom. Dies waren 61,5 Prozent der gesamten inländischen Stromerzeugung (brutto) und 63,2 Prozent des gesamten Landesverbrauchs (BFE 2022b). Kaum ein Land erzeugt einen derart hohen Anteil des Stroms aus Wasserkraft.

Wasserkraftwerke leisten jedoch nicht nur einen wichtigen Beitrag zur Stromproduktion, je nach Kraftwerkstyp können sie auch zur Stabilität des gesamten Stromnetzes beitragen und Pumpspeicherwerke können – wenn auch mit Verlusten – Überschüsse (z.B. aus Solar- oder Windkraft) wie grosse Batterien speichern. Wasserkraft ist damit in der Schweiz mit Abstand die wichtigste erneuerbare Energie – unendlich ist sie deswegen nicht.

Abb. 1: Von Ausbau-Stillstand keine Spur: Jährliche mittlere Produktionserwartung aller Wasserkraftanlagen der Schweiz 2013-2021 (Grafik nach BFE 2022d)

Kontinuierliches Wachstum

Seit Beginn des 20. Jahrhunderts erfolgte in der Schweiz ein massiver Ausbau der Wasserkraft. Die Ausbeutung der «weissen Kohle» boomte. Besonders zwischen 1945 und 1970 entstanden viele grosse Werke: im Unterland Laufkraftwerke und im Alpenraum die grossen Speicheranlagen. Noch zu Beginn der 1970er Jahre stammten rund 90 Prozent der inländischen Stromproduktion aus Wasserkraft. Nach Inbetriebnahme der Schweizerischen Kernkraftwerke bis 1985 nahm dieser Anteil auf rund 60 Prozent ab – wo er auch heute noch liegt (Federer, Putzi 2019). Dies war die Zeit des lukrativen Handelns mit Spitzenstrom aus Wasserkraft.

Die Produktionsleistung der Wasserkraft ist jedoch auch danach kontinuierlich gewachsen – wenn auch etwas langsamer (Abb. 1). Besonders die Einführung der Kostendeckenden Einspeisevergütung sorgte nochmals für einen Boom beim Bau von Klein- und Kleinstwasserkraftwerken. Seit 2006 wurden insgesamt rund 364 Wasserkraftanlagen neu in Betrieb genommen – ohne Infrastrukturanlagen bspw. zur Trinkwasserversorgung (Wasseragenda 21). In nur 15 Jahren wurde also fast ein Viertel aller Wasserkraftanlagen neu in Betrieb genommen. Darunter 151 Kleinstwasserkraftwerke mit einer Leistung von weniger als 300 kW (ebd.).

Vom oftmals beklagten Stillstand beim Ausbau der Wasserkraftnutzung kann somit keine Rede sein. Dank Subventionen und teilweise grosszügig ausgelegten Umweltvorschriften wurde das verbliebene Potential der Wasserkraft systematisch weiter ausgepresst – auf Kosten der Gewässerlebensräume und ihrer Artenvielfalt.

Neubau in Schutzgebieten

Kein Lebensraum hat derart unter uns Menschen gelitten wie unsere Fliessgewässer und die Wasserkraftnutzung ist eine der Hauptursachen. Sie teilt Bäche und Flüsse in isolierte Teilstücke, verursacht über 2700 Kilometer Restwasserstrecken mit keiner oder stark reduzierter Wasserführung, über 1000 Kilometer Fliessstrecke mit künstlichen Abflussschwankungen (Schwall-Sunk) und beeinträchtigt den Geschiebehaushalt. 100 Prozent der Lebensraumtypen von Ufern und Feuchtgebieten sowie 91 Prozent der Fliessgewässer-Lebensraumtypen gelten heute als bedroht (BAFU 2016). Insgesamt verfügt die Schweiz noch über weniger als 5 Prozent vollständig intakter Fliessgewässer (WWF 2016).

Bereits 1984 warnte eine Studie im Auftrag des Bundesamts für Forstwesen, «dass ein genereller Weiterausbau der Wasserkräfte (…) zunehmend an seine Grenzen stösst» (Broggi, Reith 1984). Die Autoren forderten «den vollständigen Verzicht auf jegliche Wasserkraftnutzung in prototypischen Alpinlandschaften bzw. den Schutz von «Erinnerungsbächen» in schon stärker durch den Wasserkraftwerksbau belasteten Gebieten» und sahen die Zukunft der Wasserkraftnutzung «weitgehend nur noch in der Verbesserung des technischen Wirkungsgrads» (ebd.).

Doch der Druck auf die letzten unverbauten Gewässer hat weiter zugenommen. 1984 betrug die mittlere jährliche Produktionserwartung aus Wasserkraft noch rund 32 TWh – heute liegt diese je nach Berechnungsgrundlage bei über 37 TWh (BFE 2022a). Eine Untersuchung aus dem Jahr 2017 kommt dabei zu einem erschreckenden Ergebnis (Vollenweider, Müller 2017): Von 248 zwischen 2006 bis 2015 in Betrieb genommenen oder umgebauten Wasserkraftanlagen liegen knapp drei Viertel in einer natürlichen / naturnahen oder wenig beeinträchtigten Gewässerstrecke. Knapp ein Viertel der genutzten Standorte liegt sogar in geschützten Gebieten. Das betrifft insbesondere Standorte von Kleinstwasserkraftwerken mit einer Leistung von weniger als 300 kW (ebd.).

57 Prozent der Schweizer Wasserkraftanlagen sind Kleinstwasserkraftwerke. Zusammen erzeugen sie weniger als 1 Prozent des gesamten Wasserstroms. Bild: © tauav – stock.adobe.com

Ineffizient, teuer, biodiversitätsschädigend

Insgesamt gibt es heute rund 900 Kleinstwasserkraftwerke, mit einer jährlichen Stromproduktion von zusammengerechnet rund 300 GWh (BFE 2019a). Rund 57 Prozent aller Wasserkraftanlagen produzieren damit weniger als 1 Prozent des Schweizer Wasserkraftstroms. Das Verhältnis zwischen ökologischen Auswirkungen und dem Beitrag der Anlagen zur Energiewende steht somit in einem krassen Missverhältnis.

Kleinstwasserwerke nutzen oft auch kleine Fallhöhen und werden teilweise wie ein Hobby betrieben. Nahezu jeder Bach kommt in den Augen der Verfechter:innen für die Installation eines Kraftwerks in Frage. Auch verbliebene, naturbelassene Seitenbäche in den Bergtälern werden gefasst. Das beeinträchtigt auch die bereits stark belasteten Hauptflüsse – beispielsweise durch die fehlende Zufuhr von Kleinstlebewesen als Nahrungsquelle für Fische. Die Barrierewirkung von Wasserkraftanlagen ist unabhängig von der produzierten Menge Strom. Die Stromproduktion vieler kleiner Wasserkraftwerke schädigt die Biodiversität somit stärker als ein grosses Kraftwerk mit derselben Stromproduktion (Gubler et al. 2020).

Hinzu kommt, dass Klein- und Kleinstwasserkraftwerke schlichtweg ineffizient sind. Selbst das Bundesamt für Energie (BFE) geht davon aus, dass «diese Werke ohne Unterstützung nicht wirtschaftlich betrieben werden können » (BFE 2019b). Ineffizient, teuer und biodiversitätsschädigend: Zu diesem Urteil kamen auch 65 Fachwissenschaftler: innen aus Deutschland, welche nicht nur einen Förderstopp für die Kleinwasserkraft fordern, sondern auch eine Umwidmung der entsprechenden Gelder für den Rückbau der Anlagen (Memorandum 2021). Nicht nachvollziehbar, dass es in der Schweiz noch Stimmen gibt, die einen weiteren Ausbau der Klein- und Kleinstwasserkraft fordern.

Genug ist nie genug

Doch der stetige Ruf der Wasserkraftlobby nach mehr und das beständige Entgegenkommen von Seiten der Politik haben in der Schweiz System. Der Bund erhöht seit Jahrzehnten die Ausbauziele für die Wasserkraftnutzung und fördert die Betreiber grosszügig.

1990 setzte sich der Bund im Rahmen von Energie 2000 das Ziel, die Wasserkraft um zusätzliche 5 Prozent auszubauen. Noch vor der Zielerreichung im Jahr 2000 erhöhte der Bund das Ausbauziel auf 2 TWh bis 2030 im Vergleich zum Jahr 2000 (EnG Art. 1 Absatz 4 vom 26 Juni 1998). Eine weitere Erhöhung erfolgte im Jahr 2016. Im Rahmen der Energiestrategie 2050 soll die Stromerzeugung aus Wasserkraft bis 2035 auf insgesamt 37,4 TWh steigen (EnG Art. 2 Abs. 2 vom 30. September 2016). Und in der Botschaft zur Energiestrategie 2050 ist sogar von 38,6 TWh bis 2050 die Rede (Bundesrat 2013).

Solche Dimensionen erscheinen jedoch selbst dem BFE als nicht realistisch. 2019 veröffentlichte es eine Untersuchung zum Potential der Wasserkraftnutzung in der Schweiz (BFE 2019b). Das BFE korrigierte darin seine eigens berechneten Werte von 2012, auf deren Grundlage auch die Ziele der Energiestrategie formuliert wurden. Statt einem zusätzlichen Ausbaupotential (2011 bis 2050) von 3160 GWh pro Jahr geht das BFE seit 2019 lediglich noch von 1560 GWh pro Jahr aus (ebd.). Der maximal zu erreichende Ausbaugrad liegt demnach bei 36,9 TWh mittlerer Produktionserwartung im Jahr 2050 (ebd.). Werden die Ziele der Energiestrategie erreicht entspricht dies einem Ausbaugrad von 101 Prozent bis 2035 und knapp 105 Prozent bis 2050. Bereits heute liegt die mittlere Produktionserwartung bei rund 36,7 TWh (BFE 2022e), dies entspricht 99,5 Prozent des gesamten Ausbaupotentials.

Trotz dieser Potentialanpassung des BFE bleiben die Ausbauziele des Bundes bisher unverändert hoch – es werden sogar immer weitere Ansprüche an unsere Gewässer gestellt. Zuletzt hat sich der «Runde Tisch Wasserkraft» unter Leitung von Bundesrätin Simonetta Sommaruga auf den Bau oder die Erweiterung von 15 Kraftwerken (insgesamt rund 2 TWh steuerbare Winterproduktion) als angeblichen Kompromiss zwischen Naturschutz- und Wasserkraft geeinigt. Wo dieser Kompromiss liegen soll, ist allerdings unklar angesichts der Potentialeinschätzung des BFE und der Tatsache, dass im Gegenzug kein einziger Gewässerabschnitt unter Schutz gestellt wurde. Dass es primär um wirtschaftliche Rahmenbedingungen geht, zeigt zudem die Tatsache, dass es bewilligte Wasserkraftprojekte gibt, die von den Betreibern nicht umgesetzt werden – beispielsweise die Erhöhung des Stausees Göscheneralp oder der Ausbau des Kraftwerks Brusio im Puschlav.

Kantone profitieren doppelt

Die starke Rolle der Wasserkraft für die Stromversorgung der Schweiz ist politisch gewollt und durch weitreichende Subventionen gestützt. Insgesamt wurde die Wasserkraft 2018 mit über 460 Millionen Franken gefördert (Gubler et al. 2020). Die Betreiber der Anlagen konnten und können hierzu auf eine ganze Reihe von Fördertöpfen zurückgreifen: Hierzu zählen Investitionsbeiträge und Marktprämien sowie die kostendeckende Einspeisevergütung und das Einspeisevergütungssystem. Zudem lassen sich die Kraftwerke über Abgaben auf den Strom auch für das Erledigen längst fälliger Hausaufgaben bezahlen: Beispielsweise die Verbesserung der Fischgängigkeit, die eigentlich in allen Konzessionen verbindlich vorgeschrieben wäre.

Von den unterschiedlichen Förderinstrumenten profitieren aber nicht nur die grossen Stromkonzerne. Auch die Kassen der Kantone klingeln. Rund 75 Prozent der Schweizer Wasserkraftwerke sind in kantonalem und kommunalen Besitz (ebd.). Vom Bund erhalten sie dafür die oben genannten Fördergelder. Hinzu kommen die Einnahmen aus dem Wasserzins, den die Kantone von Betreibern privater Anlagen erheben. 2018 betrugen die Einnahmen aus dem Wasserzins rund 550 Millionen Franken (ebd.).

Diese Doppel-Begünstigung der Kantone ist problematisch. Denn sie treten nicht nur als Betreiber von Wasserkraftanlagen auf, sondern vergeben auch die entsprechenden Konzessionen. Neben den grossen Stromkonzernen sind es also vor allem die Kantone, die ein massives (finanzielles) Interesse am weiteren Ausbau der Wasserkraft besitzen und diesen politisch vorantreiben.

Zeitenwende

Die Gewässer leisten in der Schweiz einen riesigen Beitrag zur Stromversorgung und zum Klimaschutz, teilweise mit Biegen und Brechen. Wenn wir nicht umdenken, riskieren wir den Verlust der letzten noch einigermassen intakten Gewässerlandschaften. Wir dürfen es nicht länger zulassen, dass aufgrund eingefahrener, überholter Denkmuster, Profitdenken und politischen Verstrickungen das bereits dramatische Artensterben in und entlang unserer Gewässer weiter voranschreitet. Die Wasserkraft war die Technologie des 20. Jahrhunderts. Das 21. Jahrhundert gehört der Solarenergie aber auch der Windkraft und der Energieerzeugung aus Biomasse. Hier liegen Potentiale, die das der Wasserkraft bei weitem übersteigen und die weniger ökologische Folgeschäden verursachen. Allein das Potential der Solarenergie übersteigt den heutigen und auch den zukünftigen Stromverbrauch der Schweiz bei weitem. Es ist an der Zeit dies anzuerkennen. Nur so schaffen wir die Klimawende ohne dabei die Biodiversitätskrise weiter zu verschärfen.

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